Opern-Kritik: Die Meistersinger von Nürnberg, Premiere in Karlsruhe am 27.4.2014
Ich war inzwischen schon länger nicht mehr in der Karlsruher Oper – der Schock über den Lohengrin-Flop saß wohl zu tief. Die Meistersinger-Premiere aber konnte man sich natürlich nicht entgehen lassen. Und was für ein Triumph wurde das! Eine dieser Sternstunden, die man nur selten erlebt. Aus der perfekten Verbindung von Musik und Szene ergab sich eins dieser Gesamtkunstwerke, wie sie den besonderen Zauber der Liveaufführung ausmachen, aber nur selten zu erleben sind.
Die Aufführung überzeugte dabei mit einem hochkarätigen Sängerensemble, angeführt von Renatus Meszar als nie ermüdender und mitreißender Sachs, der trotz etwas trockener Stimme zum sängerischen Zentrum der Aufführung wurde, Armin Kolarczyk als ebenso mitreißender und präsenter Beckmesser, Guido Jentjens als stimmgewaltiger Pogner und Eleazar Rodriguez als stimmschöner, junger, textverständlicher und präsenter David. Überzeugen konnte auch Daniel Kirch als Stolzing, auch wenn seine Stimme in den Höhen etwas spröde blieb und er beim Preislied etwas schwächelte, insgesamt doch ausgezeichnet. Nicht ganz mithalten konnten die Damen, Rachel Nicholls als Eva etwas angestrengt, vor allem in den Höhen teils etwa schrill. Aber die sang sich zunehmend frei und sang so einen durchaus achtbaren dritten Aufzug. Dass auch Stefanie Schaefer als Lene wenig präsent blieb fiel aber kaum ins Gewicht.
Wenn man einen Schwachpunkt suchen müsste, am ehestens noch das Dirigat des wild rumfuchtelnden GMD Justin Brown, der gehetzt über viele Schönheiten und Details der Partitur hinwegdirigierte und sich eher aufs Krachen konzentrierte. Dennoch war es nicht zu laut, die Sänger wurden kaum überdeckt, die Einsätze stimmten und er sorgte für einen Zusammenhalt zwischen Bühne und Graben und verband alles zu einem Großen. Also Kritik auf hohem Niveau. Überzeugen konnte auch der stimmschöne Chor, obwohl er akustisch nicht immer einfach positioniert war.
Dass diese Aufführung eine solche Sensation wurde, ist neben dem beeindruckenden musikalischen Niveau insbesondere der grandiosen Inszenierung von Tobias Kratzer zu verdanken. Eine solche detailreiche, genaue, durchaus partiturnahe, tiefgründige, witzige und spannende Inszenierung der Meistersinger habe ich bislang nur von Homoki an der KOB gesehen. Kratzer schafft es bereits innerhalb der ersten Minute nach dem Heben des Vorhangs, eine unglaubliche Spannung und sprühenden Witz zu versprühen, dass man sofort in den Bann gezogen wird – und hält dies durchgehend bis zum Schluss, an dem sich der Bogen zum Beginn schließt (wie, sei nicht verraten).
Der Abendvorhang zeigt bereits, wohin die Reise geht: Die Collage von Aufführungsplakaten und CD-Covern der Meistersinger von Salzburg 1937 bis zu Katharinas Bayreuther Inszenierung spannt den Bogen von Kunstdiskurs und Rezeptionsgeschichte. So finden wir uns beim Choral denn auch in einer von Beckmesser geleiteten Chorprobe, unter den gestrengen Augen einer Lorbeer-bekränzten Büste des Meisters, der Beckmesser immer wieder huldigen wird und die bis zum Schluss in die Inszenierung eingebunden bleibt. Das (sehr wandelbare) Einheitsbühnenbild besteht aus drei Kammern, dem großen Hauptraum und zwei Nebenräumen, in denen einerseits an der Kaffeemaschine die Meister plaudern oder Sachs und Eva schäkern können, andererseits die Lehrbuben die Sitzung abwarten müssen und Stolzing den Saal betreten kann, um so Eva von der Probe abzuhalten und dabei alle Teilnehmer zu stören.
Der zweite Aufzug zeigt dank der Drehbühne eine Zeitreise durch gleich drei Bühnenbilder: Butzenscheibenromantik der Uraufführung (Szenenapplaus), Reduzierung auf eine schräge Bühne mit Flieder wie bei Wieland Wagner – und einen hässlichen Betonhinterhof mit „Mister Minit“-Schumacher – Schlüsseldienst usw. als Schusterstube, (gut frequentierte) Dönerbude und Mülltonnen, den Castorf-Ring ironisierend. Stolzing steht beeindruckt und ratlos vor dieser Rezeptionsgeschichte – irgendwie war alles schon zu sehen, was soll man noch neu machen? Die Prügelszene ist denn auch folgerichtig ein Kampf von „Staubis“ gegen „Moderne“. Der dritte Aufzug zeigt zu Beginn das Innere der Schusterstube mit Flügel und Wagner-Büste, sodann umgebaut zu einer Art Konzertsaal, die Meistersinger im Hauptraum, der Pöbel muss in den beiden Seitenräumen bleiben und dort die Aufführung mittels HD-Video verfolgen – Kino aus der Konserve statt Liveerlebnis. Bei seinem Preislied bricht Stolzing diese Trennung auf, öffnet die Türen und verbindet so Volk und Meister.
Die Inszenierung überzeugt durch eine ausgefeilte, detailreiche Personenregie, die bis ins kleinste durchdacht und logisch ist. Durch die Einbindung in den großen Kontext der Frage von moderner Kunst und ihrer Umsetzung in unserer Welt zwischen Erstarrung und neu zu Schaffendem entfacht Kratzer so einen Furor, der ein intensives Erleben der Oper ermöglicht. Trotz der durchaus modernen Inszenierung wird die Partitur dabei sehr genau gelesen und betont, sei es die detailreiche Zeichnung der verschiedenen Meistersinger (vom kiffenden Hippie, der Stolzings Nicht-Konformität durchaus goutiert, hin zum arroganten Spießer mit Schoßhund – natürlich der Meister, der sich besonders vehement gegen die Öffnung zum Volke hin ausspricht), die Betonung einzelner schöner Kleinigkeiten der Partitur (z.B. wird Sachsens/Wagners Witz von der Morgentraumdeutweise als „Nottaufe“ deutlich gemacht, indem sich Sachs die Hand zu Pistole geformt an die Schläfe hält), teils ironischer Umdeutung des Textes (Aus den „Blumen und Bänder“, die Sachs zu Beginn des 3. Aufzuges sieht, werden Davids blaues Auge und sein Verband am Arm), augenzwinkernder Kommentierung des Werks durch den Regisseur (z.B. bei Davids Aufzählung der zu lernenden Weisen im 1. Aufzug, zweifelsfrei eine Länge im Werk, gähnt Stolzing deutlich – und flirtet lieber mit den Mädels unter den Lehrbuben), und witziger Gegenläufigkeit zum Text (wenn der Chor vor Stolzings Preislied singt „Ein guter Zeuge, stolz und kühn!“, fuchtelt Stolzing gerade wie wild vor der Kamera rum und verbietet sich sehr unsouverän, aufgenommen zu werden). Dies nur ein minimaler Ausschnitt aus dem Feuerwerk der Personenregie.
Dies alles wird eingebunden in die großen, bewegenden Fragen der Oper. So wird der Kampf Sachsens mit sich selbst, ob er denn nun doch um Eva werben soll, Gefühl gegen Vernunft, hinreißend dargestellt. Das Ringen mit sich selbst wird ihm umso schwerer gemacht, als Eva in der Schusterstube nicht aufgibt (sie weiß ja noch nicht, dass Beckmesser das Lied klaute und sich nun alles zum Guten wenden wird!) und sich immer wieder an Sachs wirft, auch nachdem er sie fast schon gewalttätig zu Stolzing hindrückt. So leidet und wütet Sachs auch noch während des Aufzugs der Zünfte, der uns völlig verweigert wird (der Chor steht im Zuschauerraum).
Beckmesser ist nicht der Wagner-Gegner der Hanslick-Karikatur, sondern ein Klischee-Wagnerianer, der die Büste immer wieder anbetet und offensichtlich in Erstarrung versunken ist (ein Schelm, wer denkt, sein gestreifter, über den Rücken gelegter Pullover sei eine Anspielung auf einen aktuellen Dirigenten in Bayreuth, der ständig Wagner auf irgendwelche Sockel stellen möchte). So wird sein Auftritt in der Schusterstube zu einer der besten Szenen des Abends: Wenn Beckmesser vor der Büste darnieder sinkt und sie anbetet, öffnet sich die Türe – und nebelumrankt tritt der verstaubte Meister persönlich ein. Freilich küsst ihm Beckmesser sofort die Füße, betet ihn an, schmiegt sich an ihn – Wagner stößt ihn erst verächtlich weg, dann versohlt er ihm ordentlich den Hintern. Im Gehen projiziert der Meister noch ein „Kinder, schafft Neues!“ an die Wand (Szenenapplaus). Beckmesser kapiert es natürlich nicht, er betet auch weiterhin die Asche an, anstatt das Feuer aufrecht zu erhalten. Trotz vielfachen Gelächters gibt es dann zum Schluss für mich erstaunlich viele Buhs für das Regieteam – vermutlich hat man im Gegensatz zu Beckmesser durchaus verstanden, dass einem hier durchaus ans Bein ge… äh, ordentlich der Hintern versohlt wird. Es gibt nur wenige Aufführungen, unbedingt hinfahren!!!