Alain Badiou wird derzeit in der Szene der Forschung zu Richard Wagner gefeiert wie kaum ein zweiter Autor. Groß sind daher die Erwartungen des Lesers an die Broschüre, die ausgehend von der Beschreibung und Würdigung verschiedener bedeutender Wagner-Interpreten für eine „kritische Hinterfragung von Wagners Schaffen“ plädieren will. Im Vorwort nennt Badiou drei Personen, die für das Entstehen des Buches maßgeblich verantwortlich seien, neben François Nicolas die englische Übersetzerin Susan Spitzer, die „Mitautorin des […] Buches ist“, sowie Isabelle Vodoz, die die französische Fassung erstellt habe. Beim Lesen des Buches merkt man schnell, dass der deutsche Übersetzer Thomas Laugstien zu Recht im Vorwort nicht als Mitautor genannt wird, da er es nicht vermochte (was freilich die Aufgabe des Autors, nicht des Übersetzers ist), aus Badious Vortragsform ein halbwegs lesbares Buch mit ordentlichem Satzbau zu erstellen.
Weiterhin merkt man bereits im Vorwort, dass Badiou mit einem gesunden Selbstbewusstsein gesegnet ist, wenn er Slavoj Zizek als „den anderen großen Wagnerianer der heutigen Philosophie-Szene“ bezeichnet. Angesichts der von Badiou selbst geweckten hohen Erwartungen wird der Leser schnell ernüchtert. Dies beginnt bei völlig banalen Aussagen einerseits („Aus all diesen Gründen bin ich der Meinung, dass wir, als Einleitung, den Gedanken festhalten können, dass die Musik für den Zusammenhang zwischen Kunstformen, im weitesten Sinne, und weltanschaulichen Tendenzen oder Resonanzen eine besondere Rolle gespielt hat“, S. 15) und bloßen Behauptungen unter Verzicht auf Argumentation andererseits (S. 22: „Ich möchte hier nur daran erinnern, weil es nicht zu bestreiten ist, […]“). Es endet bei einem Verzicht auf die Ausarbeitung der anspruchsvollen Fragen (S. 26: „Das beweist natürlich, dass man genauer hinsehen muss, dass man untersuchen muss, worin die Totalisierungen bestehen, und begreifen muss, was Totalisierung im Werk Wagners bedeutet. Das ist ein ganz anderes Unternehmen“; ebenso z.B. S. 49, 54 oder 57).
Die eigentliche Ernüchterung des Lesers beruht auf Badious Verzicht auf die Definition der von ihm verwendeten Begriffe. Indem er gleichlautende Begriffe in mehreren Bedeutungen anwendet, ohne eine Bedeutung zu definieren oder im Verlaufe des Textes deutlich zu machen, in welcher Bedeutung er den Begriff verwendet, mag er dem Zuhörer der Vorlesung den Eindruck eines hoch-intellektuellen Beitrages vermitteln, da im gesprochenen Wort der mangelnde Aufbau nicht so deutlich wird. Ein Leser hingegen kann die Aussagen durch mehrmaliges Lesen überprüfen und wird so schnell feststellen, dass der Autor schlichtweg auf klare Definitionen und eindeutige Verwendungen von Begriffen verzichtet.
Intellektuell klingende Texte entpuppen sich so schnell als heiße Luft. So findet der Leser eine erste klar erkennbare Definition auf S. 57 (zur kantischen Idee der Rezeptivität). Vorher findet man das vereinzelte Bemühen von Definitionen, so bspw. auf S. 38: „[Die negative Dialektik] ist also ein wahrhaft philosophisches Werk, wenn man zugesteht, dass jedes philosophische Werk der Philosophie eine neue Stellung zuweist.“ Die Bestimmung eines philosophischen Werks kann der Leser immerhin für sich selbst vornehmen. Hingegen wüsste man beispielsweise gerne, was Wagners und Philippe Lacoue-Labarthes Beschreibung des „Gesamtkunstwerks“ war, bevor Badiou seine eigene Meinung dazu andeutet.
All diese Kritikpunkte würde man gerne vergessen, wenn man inhaltlich Überzeugendes über Wagner und dessen Rezeption erfahren würde. Doch selbst hier finden sich viele bedenkliche Aussagen. So ist es bereits zweifelhaft, ob Wieland Wagners Inszenierungsstil „(abgesehen von Protesten aus dem konservativen bayerischen Bürgertum) sofort positiv aufgenommen [wurde], und zwar aus ästhetischen Gründen“ (S. 16 ff.). Umso zweifelhafter ist es, ob Wieland Wagner tatsächlich die Aufführungen „völlig von jedem Bezug auf nationale Mythologie zu befreien“ suchte und er „die Inszenierung […] völlig verändert[e]“. Immerhin zeigt bereits der Vergleich der Bühnenbilder, dass sich Wieland Wagner einerseits stark an Adolphe Appia anlehnte, also keineswegs so originell war, wie unterstellt wird, andererseits seine Monumental-Ästhetik von der Nazi-Ästhethik nicht weit entfernt war. Hier würde man sich eine differenziertere Darstellung, statt der Wiederholung der sattsam bekannten Klischees wünschen
Schlicht fehlerhaft wird es, wenn Badiou den „wirklichen Wagner“ sucht. Während Lacoue-Labarthe treffend beschreibt, dass Gegenstand seiner Schriften „nicht Wagner selbst, sondern seine Wirkung“ sei, meint Badiou die Suche nach einem Verständnis Wagners damit begründen zu müssen, dass „man in der Tat zu einem Verständnis Wagners gelangen kann – oder wissen kann, was sich unter diesem Namen verbirgt –, wenn man von seiner Wirkung ausgeht“ (S. 21). Hier übersieht Badiou, dass es für die Nachwelt schlicht zwingend ist, von der Wirkung des Werks (nicht des bloßen Namens!) auszugehen, da eine tote Person niemals selbst Gegenstand einer Beurteilung werden kann. Als rezipierendes Lebewesen kann niemand wissen, was sich hinter einem Namen verbirgt, da dies eine objektive – von Zeit und Raum unabhängige – Festlegung erfordern würde. Für einen Zeit und Raum unterworfenen Menschen muss daher zwingend verborgen bleiben, was sich hinter einem Namen verbirgt – man kann nur von der Wirkung des Künstlers ausgehen. Badiou hätte zu Lacoue-Labarthes kluger Aussage besser geschwiegen.
Weitergehend hätte Badiou auf S. 54 besser nicht offen gelassen, wie es sich mit dem „Schein“ – gerade bei Wagner – verhält. Dann wäre er auf interessante Fragen gestoßen, die Wagner in Tristan und Isolde tiefgreifend behandelte. Aber die Beschäftigung mit dem Werk Wagners bleibt oberflächlich. So meint Badiou auf S. 52, „vergebliches Warten [ist] ein zentrales Wagnermotiv“, das sogar „zwei Drittel der Handlung im dritten Akt von Tristan und Isolde beherrscht“. Die Behauptung könnte stimmen, würde man das „vergeblich“ streichen. Man höre nur auf die Musik in Isoldes Verklärung, nach ihrer Wiederkehr zu Tristan oder lese ihren Text, in dem sie den bei ihr seienden, lebenden Tristan beschreibt.
Badiou kritisiert an Lacouee-Labarthes Werk „Musica ficta“, man habe nach dessen Lektüre “ob man will oder nicht, eine bestimmte Vorstellung von Wagner, weil es, recht besehen, letzten Endes eben doch Wagner ist, von dem dieses Buch handelt“. Mit den „Fünf Lektionen zum ‚Fall‘ Wagner“ läuft man nicht Gefahr, eine bestimmte Vorstellung von Wagner oder dessen Rezeption zu erhalten.
Der Autor, Dr. Matthias Lachenmann, ist Mitglied im Präsidium des Richard-Wagner-Verbands International e.V. Der Beitrag gibt nur seine persönliche Meinung wieder. Die Rezension bezieht sich aus zuvor genannten Gründen nur auf die ersten beiden „Lektionen“.