Die neue Serie der »Meistersinger von Nürnberg« in Bayreuth ist ein Triumph für die Bayreuther Festspiele und eine musikalisch rundherum gelungene Aufführung, die wohl die ausgewogenste und beste Besetzung der letzten Jahre aufbieten konnte. So erwartet man es in Bayreuth, und man stellt erfreut fest, dass die Festspiel-Leitung um Katharina Wagner die Festspiele auf solch hohem Niveau festigen konnte. Selbst mit noch kleineren offenen Wünschen: Bayreuth muss bekanntlich Werkstatt bleiben und viele aktuelle Kritikpunkte werden sicherlich im Laufe der Aufführungsserie ausgeglichen werden.
Britische Studenten wollten sich 1964 nach Bayreuth durchschlagen, um den auf den Theatern der Insel üblichen „Stoffbühnenbildern und dramaturgisch dürftigem Hyper-Realismus“ zu entkommen. So berichtete Sir Peter Jonas in seiner Rede im Gedächtniskonzert für Wieland Wagner am 24.7.2017. Wer sowohl das Wieland-Konzert mit der brillanten Rede von Sir Peter als auch die Premiere der Meistersinger von Nürnberg am 25.7.2017 erlebt hat, fragt sich unweigerlich: Was sagt jemand zu dieser neuen Inszenierung, der vor dramaturgisch dürftigem Hyper-Realismus flüchtete? Die Antwort auf die Frage macht Barrie Kosky dem Zuschauer natürlich nicht leicht, da einerseits Butzenscheiben-Romantik und Puffärmel-Kostüme vorherrschen, andererseits der dem Werk inhärente Antisemitismus aufgezeigt wird und schmerzlich präsent bleibt.
Die »Meistersinger« haben in Bayreuth eine besondere Tradition und die Verantwortung für den Umgang mit dem Werk, das in den letzten Jahren des NS-Regimes ständig in Bayreuth gespielt wurde, ist immens. In „Neu-Bayreuth“ wurde das Werk stets durch Mitglieder der Wagner-Familie inszeniert, zuletzt war es Katharina Wagner, die eine originelle und des Werks Erbe ergründende Arbeit vorlegte. Nun ein australisch-jüdischer Operetten-Experte, der Wagners „komische Oper“ inszeniert. Die Akustik des Festspielhauses ist für die Meistersinger bekanntlich kaum geeignet, es bedarf besonderer Kenntnisse des Dirigenten. Gewonnen werden konnte Philippe Jordan, der vor wenigen Jahren bereits »Parsifal« dirigierte. Eine exzellente Wahl, das Dirigat von Jordan überzeugt durch Kurzweiligkeit, Energie, Spritzigkeit, aber ebenso Sicherheit, feine Dynamik, einen Sinn für den großen Fluss und den besonderen Klang des Festspielorchesters. Sicherlich gelingt noch nicht alles, so geht in der Ouvertüre noch einiges durcheinander und immer wieder fehlen die kleinen Abstufungen und Lautstärkedifferenzierungen. Aber es fügt sich zusehends zu einem wunderbar flüssigen Dirigat im dritten Aufzug. In der Werkstatt wird das Dirigat in den nächsten Jahren sicherlich umso bedeutender geschliffen werden. Mit dem exzellenten Orchester mag das problemlos gelingen.
Dass der Festspielchor einer der weltbesten Chöre ist, zeigt sich auch wieder in dieser Aufführung. Ihn noch zu loben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Die Dynamik, die Abstufungen, der Klang, die Farben und Schattierungen sind einfach sensationell. Vor allem die Lehrbuben machten musikalisch den ersten Aufzug zu einem besonderen Erlebnis. Die Solo-Rollen sind bis ins Kleinste hervorragend besetzt, von den präsenten Meistersingern über Georg Zeppenfeld als Nachtwächter (der leider nur aus dem Off singen darf) hin zu den großen Partien. Bei den Damen begeistert vor allem Wiebke Lehmkuhl als präsente, klug gestaltende und intensive Magdalene. Anne Schwanewilms startet als Eva etwas verhalten und klingt etwas zu „Cosima-haft“, auch in den beiden hochdramatischen Ausbrüchen gerät die erfahrene und kluge Sängerin leider an ihre Grenzen. Aber sie singt doch eine stets präsente und kluge Eva.
Eine interessante Besetzung des David ist Daniel Behle, der einen sehr präsenten David gibt, wobei man auf umso mehr Gestaltung mancher Szenen in den kommenden Aufführungen hofft. Günter Groissböck ist ein exzellenter, stimmgewaltiger und klangschöner Pogner. Derzeit dürfte es kaum einen Sänger geben, der die Rolle so präsent ausfüllen kann – grandios! Gleiches gilt für Johannes Martin Kränzle, der als Beckmesser einfach herausragend ist und mit Spielfreude und stimmlicher Präsenz begeistern kann. Besser geht es eigentlich kaum noch. Das gilt auch für den Stolzing von Klaus Florian Vogt, in der Rolle die ihm eigentlich noch besser als der Lohengrin liegt. Sein besonderes Timbre ist auch in den großen Ensembles und Chorszenen stets präsent und klar, ohne aufdringlich oder überdeckend zu sein. Vielleicht fehlt ihm etwas die Frische – aber vielleicht war er 2007 auch so besonders großartig, weil Katharina Wagner ihn damals besonders forderte und zu Höchstleistungen animieren konnte? Und Michael Volle! Er ist ein einfach sensationeller Hans Sachs! Startete er im ersten Aufzug noch etwas zurückhaltend und eher deklamierend, wurde er doch schnell warm und bot volle stimmliche Präsenz, Gestaltung und eine besondere Spielfreude. Je länger die Oper lief, umso besser und lebendiger wurde er. Volle wurde so zur Spitze des herausragenden Sängerensembles und schärfte die exzellente Sängerbesetzung.
Es bleibt die – nach der Premiere eifrig diskutierte – Frage, ob sich die Inszenierung denn nun auf Stoffbühnenbilder und dramaturgisch dürftigem Hyper-Realismus beschränkte oder eine intellektuelle und tiefgehende Auseinandersetzung mit diesem problematischen Stück darstellte. Nicht leugnen kann man die Ähnlichkeiten mit der letzten »Parsifal«-Inszenierung von Stefan Herheim, der die Bayreuther und Deutsche Geschichte über das Werk stülpte und im Schlussbild einer treu-teuschen Familie enden ließ. Auch bei Kosky sehen wir im bebilderten Vorspiel die Familie Wagner mit Freunden, aus denen sich die Darstellung des Werks entwickelt. Im Gesang der Gemeinde in der Katharinenkirche sehen wir die christlich betende Familie Wagner, die den Juden Levi zwingt, sich anzuschließen (der freilich den Ritus nicht kennt und alles falsch macht). Diese erste Szene ist schlicht grandios, da sie Wagners Antisemitismus und dessen belegten Verhalten gegenüber Levi mit dem problematischen Werk der Meistersinger verknüpft. Die Erwartungen für die restlichen fünf Stunden werden also hochgeschraubt.
Inszenierungen von Barrie Kosky zeichnen sich dadurch aus, dass er eine gute Balance zwischen unaufgeregter, handwerklich hervorragender Personenführung einerseits und im Gedächtnis haftenbleibender, schockierender Regie-Ideen changiert und einen klugen Übergang findet. (Ich denke z. B. an seine spannenden, symbolgeladenen Inszenierungen von »Walküre« und »Siegfried« in Hannover oder die genial-fesselnden »Tristan und Isolde« in Essen.) In der aktuellen Bayreuther Inszenierung legt Kosky den Fokus allerdings stark auf die unaufgeregte Personenführung und verbleibt bei der Darstellung und Interpretation zu oft im Abstrakten. Im engen Bild des 1. Aufzuges ist kaum Platz für Interaktion der Sänger, im weiten Bild des 2. Aufzuges ist zu viel Platz für deren Interaktion und im großflächigen Bild des 3. Aufzuges bleibt die Interaktion sehr abstrakt.
Die besonderen Akzente setzte Kosky als „Cliffhanger“ am Ende der Aufzüge: Im 1. Aufzug löst sich die Butzenscheiben-Romantik auf in den Saal der Nürnberger Prozesse. Im 2. Aufzug wird die Prügelfuge zum Pogrom der Nürnberger Bürger gegen den Juden. Stets möchte man also wissen, wie es weitergeht. Und stets geht es eigentlich nicht weiter. Im 2. Aufzug ist anscheinend Gras über die Nürnberger Prozesse und die Nazi-Zeit gewachsen. Ein treffendes Bild unserer heutigen Gesellschaft – doch warum sind die Charaktere dann weiterhin in Puffärmel-Kostüme gekleidet? Im 3. Aufzug spielt alles im voll ausgestatteten Gerichtssaal – aber warum, wird nicht wirklich klar. Die Rollen sind nicht klar verteilt nach Ankläger, Angeklagte, Verteidiger, Richter; vielmehr ist das Volk überall in allen Positionen, die Schusterstubenszene an zwei gesonderten Tischen an der vorderen Bühne mit unklarer Funktion. Auch der Schluss bleibt sehr im Ungefähren. Dass die heil’ge deutsche Kunst in unserer Musik statt in der Politik liegen sollte ist ja ein schöner Wunsch. Aber bleibt er nicht Utopie, angesichts eines Furtwängler, der Beethovens neunte Sinfonie auch in düstersten Zeiten dirigierte, angesichts eines Süd-Rhodesien, das die Neunte als Nationalhymne missbrauchte, angesichts der Möglichkeit, dass je nach Kontext und Kausalität auch ein C-Dur-Akkord rassistisch sein kann, angesichts des Missbrauchs von Wagners Erbe?
Für mich blieb Barrie Kosky in seiner Bayreuther »Meistersinger«-Inszenierung hinter seinen Qualitäten zurück. Natürlich hat er völlig Recht, dass Wagner der Figur des Beckmessers die typisch-antisemitischen Klischees seiner Zeit mitgab und dass der schwierige Text des Schlussansprache schrecklich missbraucht wurde. Gerade deshalb sollte man die im Werk enthaltenen Problematiken umso öfter und deutlich darstellen, statt sich die meiste Zeit auf Puffärmel-Kostüme im Nürnberger-Prozesse-Bühnenbild zu beschränken und über weite Strecken auf konventionelle Personenregie zurückzuziehen. Freilich beschränkt sich die Inszenierung nicht auf Stoffbühnenbilder und dramaturgisch dürftigen Hyper-Realismus – jedoch erlaubt sie das Missverständnis, dass sie sich darauf beschränken wollte.
Autor: Dr. Matthias Lachenmann