Endlich wieder Bayreuther Festspiele! Wie glücklich sind wir, nach einem Jahr Zwangspause wieder Aufführungen in Bayreuth erleben zu dürfen. Der befürchtete Aufwand mit der Registrierung stellt sich schnell als sehr unkompliziert heraus, mit dem Bändchen kommt man problemlos überall rein, durch die reduzierte Zuschauerzahl tritt man sich nicht auf die Füße und die verschiedenen Foodtrucks ermöglichen ein deutlich erfrischenderes Catering als mit der früheren Restauration. Am Platz im Haus dann ein kleiner Wehmutstropfen: vier Gäste aus Österreich, die den Eindruck vermitteln, um 5 Uhr morgens in der Hafenkneipe zu feiern, natürlich ohne die lästigen Masken (kein Teil der Inszenierung). Doch alles Drumherum ist schnell vergessen, wenn sich im Festspielhaus der Vorhang hebt und die ersten mystischen Töne aus dem Abgrund dringen.
Oksana Lyniv stellt gleich sicher, dass man das Drumherum vergisst und sich in die Oper einfindet. Sie hat das Werk sorgsam einstudiert und weiß genau, was sie will und zaubert eine Vielzahl von Klangfarben. Das ist toll und man findet verschiedene Beispiele in den letzten Jahren, als Bayreuth-Debütanten nicht so gut mit den klanglichen Verhältnissen zurechtkamen. Dennoch bleibt vor allem ungefähr die erste Hälfte des Werks recht steif und zerdehnt, sie scheint sich noch vor der Akustik zu fürchten und auf Nummer sicher zu gehen. Oft hat man den Eindruck, sie wolle Knappertsbusch noch überbieten (obwohl sie bei „Meine Musik“ auf BR-Klassik noch gegenteiligen versichert hatte). Deutlich hörbar scheint dies in Sentas großer Arie im 2. Aufzug, die vor allem in der 2. Strophe fast einschläft (man meint fast zu hören, wie die Musik in viertaktige Päckchen zerlegt und jeweils mit Ritardando und Fermatenpause verschnürt werden). Zusammen mit der biederen Inszenierung bleibt die Aufführung so über längere Strecken viel zu zahm – lebendig wird es eigentlich erst mit dem Auftritt Eriks. Also ein achtbares Debüt, das mit der Zeit sicherlich noch deutlich an Spannung gewinnen wird – mit Lyniv haben die Festspiele eine hervorragende Entscheidung getroffen.
Mit Tcherniakov haben die Festspiele einen gefeierten Regisseur gewonnen, ein „großer Name“, der an allen großen Häusern gefragt ist. Leider ist seine Inszenierung genauso schwach, wie andere Arbeiten an anderen Häuser (aber entsprechend des derzeitigen Trends). Tcherniakov ist sicherlich ein sehr guter Bühnenbildner, aber sollte sich vielleicht darauf beschränken, statt noch Regie zu führen (das war schon auffällig bei seinem Parsifal an der Staatsoper unter den Linden). Weil ihm zum Stück selbst wohl nichts einfällt, überlegt er sich eine neue Rahmenhandlung – ohne, dass das den Zuschauer:innen einen Mehrwert bringen würde. Die Inszenierung bleibt über weite Strecken stockbieder und kreuzbrav, im ersten Aufzug sitzen die Sänger an der Bar herum und singen, danach sitzen sie bei der Chorprobe, sitzen am Esstisch oder sitzen an Camping-Bestuhlung und singen. Personenführung oder Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt, dazu kommen handwerkliche Mängel. Zwei Beispiele dafür:
Im Senta-Holländer-Dialog im 2. Aufzug setzen sich die beiden zusammen mit Vater Daland und (angeblicher) Mutter Mary in einen Raum spießiger Familienidylle hinter Säulen und singen den Dialog bei einem Abendessen. Daraus ergeben sich Probleme noch und nöcher: zunächst sieht man hinter den Säulen nur noch wenig, und damit auch wenig Emotionen – was empfinden die Protagonisten hier, wie findet das Kennenlernen statt, wie entwickelt sich deren Verhältnis? Wir erfahren davon nichts, weil die beiden ja nur steif am Tisch sitzen. Dazu kommt, dass die angeblichen Eltern mit am Tisch sitzen, aber keinerlei dramaturgische Bedeutung haben und nicht erklärt wird, warum Daland zwar sagt „dann gehe ich jetzt mal“ und dann doch bleibt. Gegen Ende des Dialogs gehen die Eltern dann, wieder nicht dramaturgisch begründet, einfach hinaus. Aber warum geht Daland hinaus? – Weil er eine Minute später wieder reinkommen muss, er muss ja laut Text als nichtanwesender fragen, wie es jetzt mit der Hochzeit aussieht.
Eine wichtige Regel bei Wagner: man muss etwas Positives für alle handelnden Personen empfinden. Nichts war Wagner wichtiger als die Sympathie mit allen Protagonisten, das Mit-Leiden, das Verständnis für deren Handeln (ohne es gut finden zu müssen). Aber wie kann ich noch etwas für den Holländer empfinden, wenn er am Ende wahllos Dorfbewohner erschießt? Natürlich, es wird angeblich durch die in der Ouvertüre erfundene Handlung begründet, dass Daland die Mutter des Holländers in den Selbstmord treibt. Aber das soll reichen, um Verständnis mit dem Holländer zu haben? So erzeugt man doch nur Ablehnung, das Publikum freut sich über des Holländers Tod und dass Senta in ihrer Familienidylle daheimbleiben darf. Wie das aus dem Werk heraus hergeleitet werden soll, bleibt im Dunkel.
Man denke da nur an andere Aufführungen im Vergleich: Wie bleibt einem das Herz stehen, wenn bei Konwitschny in München Senta und Holländer einfach nur die Türen öffnen und sich sehen! Wie empfindet man einen Faustschlag bei Bieto in Stuttgart, wenn nach dem Liebesduett der betrunkene Daland mit Schampus-Flaschen und Prostituierten reinstürzt und seinen neuen Reichtum absichern will! Wie witzig ist es, wenn bei den Homoki-Meistersingern an der Komischen Oper Beckmesser mit seinem Frackschoß/Teufelsschwänzchen durch die Gassen huscht (das Bühnenbild scheint offensichtliche Inspiration für Tcherniakov)! Egal was man von den genannten Aufführungen hält: solche Emotionen werden hier verweigert, hier wird man lustloser Zuschauer und fragt sich, warum einen das Gezeigte interessieren soll.
Warum man als Zuschauer die Aufführung ansehen soll? Natürlich auch, weil wieder exzellent gesungen wird. Gewisse Abstriche akzeptiert man derzeit natürlich überall nach den langen, Corona bedingten Zwangspausen – erst recht bei Sängern wie Lundgren, die eine Corona-Infektion überstanden haben. Zunächst soll der, wie immer, wunderbare Chor hervorgehoben werden, der mit der Herausforderung zu kämpfen hat, aus Sicherheitsgründen aus dem Probensaal zu singen und live eingespielt zu werden. Aber das fällt live kaum auf, musikalisch wird das sehr hochwertig eingebunden und man hört sofort, dass so nur der Festspiel-Chor singt. Bravi!
Auch die Protagonisten überzeugen weitgehend. Für mich an erster Stelle: Eric Cutler als Erik, der die undankbare Rolle der für eine Frau wie Senta völlig uninteressanten Heulsuße so kraftvoll, stimmschön, perfekt und rund gestaltet, dass es einen die Tränen in die Augen treibt. Mit seinem Auftritt gewinnt die ganze Aufführung an Fahrt und wird zu einem runden Opernabend. Auch Asmik Grigorian überzeugt als kräftige und sichere Senta, selbst wenn sie zu Beginn noch zu kämpfen hat und ihre große Arie über die nächsten Aufführungen sicherlich noch gewinnt. Über mangelndes Textverständnis und teils verwaschene Phrasierungen sieht man angesichts der Stimmpräsenz und Bühnengewalt gerne hinweg. Eine so präsente Senta ist beglückend. John Lundgren als Holländer wird hoffentlich noch besser reinkommen, er hat die nötige körperliche Bühnenpräsenz, stimmlich hätte man sich mehr Farben oder Kraft gewünscht. Stimmschön und bühnenpräsent auch Attilio Glaser als Steuermann und Marina Prudenskaya als Mary. Bleibt Georg Zeppenfeld als großartiger Daland, wie immer mit absoluter Textverständlichkeit und stimmlicher Präsenz – ein absolut erstklassiger Daland.
Was verbleibt in der Gesamtschau? Musikalisch klar auf dem höchsten Bayreuth-Niveau, mit dem wir in den letzten Jahren wieder verwöhnt waren, viele der beschriebenen Kritikpunkte werden sich sicherlich schon im Laufe der nächsten Aufführungen einspielen. Szenisch wird eingelöst, was der Zeitgeist derzeit schätzt, man nimmt es – wie an allen anderen Häusern – in Kauf für eine musikalisch tolle Aufführung.
Da derzeit immer wieder aufgrund neuer Reisebeschränkungen Karten zurückgegeben werden müssen, sind immer wieder freie Karten verfügbar. Wie gesagt, die Registrierung geht unkompliziert, die Sitzplätze sind angemessen getrennt und dank Abstands und Maskenpflicht auch während der Aufführung fühlt man sich sehr sicher. Wer Glück hat und aufmerksam ist, kann spontan also noch Holländer-Karten ergattern – es lohnt sich!