Zum Irrweg der Wiederbelebung alter Inszenierungen
Im letzten Sommer musste das Opernpublikum im deutschsprachigen Raum mehrere „Wiederbelebungen“ oder „Neuinterpretationen“ von Operninszenierungen erleben. Angeblich sollen damit „Re-Kreationen“ geschaffen werden, die Aufführungen von früher wieder „erlebbar“ machen. Dies ist ein Irrtum. Denn Theater ist eine Kunst des Augenblicks, kann stets nur kreieren, kann nur das Publikum im Hier und Jetzt erleben lassen. Da jedes Leben Zeit, Raum und Kausalität unterworfen ist, ist es bereits denklogisch unmöglich, Aufführungen von vor 50 Jahren könnten reproduziert werden.
Bereits bei der Walküre aus Salzburg von 2016 konnte man dies schnell bemerken. Das einzige, das aus der „legendären“ Walküre übernommen werden konnte, waren die Skizzen des Bühnenbildes. Bei den Lichtstimmungen versuchte man noch, sich zu orientieren. Die Personenführung hingegen – das konstituierende Element des Theaters – war verschollen. Stattdessen stülpte Frau Nemirova nachgemachten Bühnenbildern eine neue Inszenierung über. Die Behauptung, die Karajan-Walküre zu „reproduzieren“, kann mithin nicht eingelöst werden.
Die Fehlbezeichnung wird schnell offenbar, wenn man sich verdeutlicht, dass Theater niemals eine „reproduzierende“ Kunst sein kann. Theater ist eine vergängliche Kunst, ein Werk des Augenblicks. Theater kann nicht konserviert oder reproduziert werden. Jede Form der Konservierung (z.B. die Videoaufzeichnung und anschließende DVD-Veröffentlichung) ist ein eigenständiges Kunstwerk, eine Momentaufnahme einer Aufführung, die über Kameraführung und -winkel stark beeinflusst wird. Die Aufzeichnung ist ein Abbild einer Aufführung, aber nicht die Aufführung. Die Reproduktion einer Opernaufführung ist mithin nicht einmal über eine Videoaufzeichnung möglich, da auch damit ein eigenständiges Kunstwerk geschaffen ist, das ein schlichtes Abbild der früheren Aufführung darstellt. Selbst in einer Serie an einem Theater, bei der die gleichen Sänger, Musiker, Regie, Lichttechniker, Publikum usw. teilnehmen: Jede Aufführung findet zu einer anderen Zeit statt, die Musiker spielen anders, die Sänger singen und bewegen sich anders. Sie produzieren ein neues Kunstwerk.
Somit: Eine Opernaufführung reproduziert nicht etwa ein von dem Komponisten geschaffenes Werk – sondern produziert es erst (dies verkennt z. B. Borchmeyer). Die Partitur bietet nur die Grundlage für die eigentliche Aufführung, die die Musiker, Schauspieler, Bühnenarbeiter zum Leben erwecken müssen. Ohne die Aufführung bleibt nur das Papier – die Aufführung produziert somit die Werke des Komponisten.
Die „Reproduktion“ einer Inszenierung, deren Ablauf niemand mehr so genau kennt, ist damit ein reiner Etikettenschwindel. Aktuelle Regisseure schmuggeln Ihre eigene Regie in die Rekonstruktion eines Bühnenbildes. Das ist keine Wiederbelebung, es ist eine Neuschaffung. Eine in aller Regel unbedeutende Neuschaffung, da sich die Verhältnisse der Welt gegenüber der früheren Aufführung geändert haben und uns daher die neue Aufführung in alten Kleidern kaum mehr etwas sagen kann. Daher: Schafft Neues, Kinder, und bezeichnet es auch so!